2010-03-30

Die Kinder von Golzow/Filmtipp

Die Kinder von Golzow

Eine Langzeitdokumentation von Winfried und Barbara Junge, nach einer Idee von Karl Gass

Kauf: DVD-Box - Buch

Einführung

Die Chronik der Kinder von Golzow berichtet von Menschen der Jahrgänge 1953 -1955, die in der DDR geboren wurden, hier aufwuchsen und, nun schon jenseits der Mitte ihres Lebens, Bürger der Bundesrepublik Deutschland sind. Im Jahre 1961 - wenige Tage nach dem Bau der Berliner Mauer - gemeinsam in Golzow (Oderbruch) eingeschult und erstmals gefilmt, führte sie das Leben nach acht, zehn oder zwölf Jahren auf verschiedenen Wegen auseinander. Ihre Geschichten und die mit ihnen verbundenen Blicke auf Lebenswirklich-keiten veranschaulichen ein Stück Geschichte der DDR und des DEFA-Dokumentarfilms. Die eine wie die andere ist beendet. Die 2007 beendete Chronik dokumentierte seit 1990 Leben in Zeiten nach der deutschen Wiedervereinigung. Als Langzeitbeobachtung ist sie eine Innovation, die - laut einer internationalen Umfrage der Stiftung Deutsche Kinemathek - mit "Lebensläufe" (1980) einen der hundert wichtigsten Filme in hundert Jahren deutschen Kinos hervorbrachte.

Beschreibung

Die Idee für die Langzeitbeobachtung stammt von Karl Gass, Jahrgang 1917 und Nestor des DEFA-Dokumentarfilms, der der sich noch lange darüber freuen konnte, dass aus ihr etwas wurde, aber am 29. Januar 2009 verstarb. Der Schauplatz war uns von Prof. Dr. Joachim Laabs, 1961 Schulrat des DDR-Bezirks Frankfurt (Oder) empfohlen worden, der später den Schulbuch-Verlag "Volk und Wissen" leitete.In Golzow hatte man eine neue, zentrale Schule für die Gemeinden der Gegend gebaut. Sie machte es möglich, nun auch auf dem Lande zehn Jahre zu lernen. Die Zwergschulen sollten ausgedient haben. Auch und gerade in einer Landschaft wie dem Oderbruch, über das 1945 verheerend der Krieg gekommen war, der Dörfer, Felder und Fluren verwüstete. Die junge Generation sollte sich bilden können. Auch um aus den Erfahrungen der Älteren zu lernen und den "sozialistischen Aufbau" mitzugestalten. Die künftigen ABC-Schützen saßen bereits als Gruppe im Buddelkasten des Kindergartens. Gleich gegenüber der Schule. Sie gefielen uns. Und für das Filmen der ersten Unterrichtsstunden mit "versteckter Kamera" gab es gute Möglichkeiten: Die 1. Klasse lag im Erdgeschoß, und so bauten wir unsere Kameras draußen vor den Fenstern auf. Ja, so fing alles an. Unnötig zu sagen, daß wir bald mit der Kamera eintraten und von da an mit dazu gehörten, wenn Schule war. Um einen solchen Film miteinander zu machen, mußten wir Freunde werden. Und so ist es bis heute geblieben.

In Erinnerung bleibt nicht die Zeit, sondern der Mensch, der die Zeit auf seinen sterblichen Schultern trug (lettisches Dichterwort).

Über das Kino gewannen sich die Golzower in der ehemaligen DDR in drei Jahrzehnten ein Publikum, über das Fernsehen Zuschauer auch in der Bundesrepublik und den deutschsprachigen Ländern Europas. Und jeder neue Film, der es verstand, die historische Dimension des Unternehmens verständlich zu machen, gewann sich zugleich auch ein neues Publikum. Das alte, welches mit dem Leben der Golzower vertraut ist und die eigene Biographie damit in Beziehung setzt, fragt nach dem Fortgang der Lebensgeschichten der Zeitgenossen. Denn wenn etwas interessant und als zeitgeschichtliches Dokument wie Experiment bedeutsam ist, so ist es die Lebensgeschichte des einzelnen Deutschen, der ein Durchschnittsbürger ist, einer von Millionen. Nach zusammenfassenden Filmen über die Gruppe, den Ort, Land- und Landwirtschaft, die Golzower Zeitgeschichte und die Werkstatt der Chronik wollten wir uns mit dem Blick auf den Abschluß unseres "Lebenswerks" ausschließlich weiter auf Geschichte und Porträt des einzelnen Helden konzentrieren und ihm so gerecht zu werden versuchen. Wir kehrten damit zu jenem Konzept zurück, das sich als das spezifisch richtigste, wesentlichste und eindrucksstärkste erwiesen hat und das wir selbst begründeten: das biographische als Möglichkeit, Zeitgeschichte im individuellen Schicksal zu reflektieren. Dieser Blickwinkel stand in der DDR oft genug im Gegensatz zum offiziellen und war auch immer beargwöhnt; Der einzelne Mensch hatte in den Medien nun einmal als Beispiel für ein erfolgreich umgesetztes Gesellschaftsmodell zu dienen und war nur in dem Maße, wie er das schaffte, von publizistischem Wert. Von der Persönlichkeit auszugehen und über die Umstände nachzudenken, die sie prägten, setzte nur unbequeme Fragezeichen. Es war also nicht leicht, eine Chronik am Leben zu erhalten, die das offizielle Bild von Mensch und Gesellschaft nicht unbedingt bediente. Dennoch wagte man nicht, das Unabweisbare des Dokuments zu bestreiten, da man uns erlaubt hatte, dem Leben vor der Kamera seinen Lauf zu lassen. In der Hoffnung, daß die Dinge doch noch einen einigermaßen akzeptablen oder gar wünschenswerten Verlauf nehmen würden, und in der Gewißheit, daß es die Zensur am Ende in der Hand hatte zu bestimmen, was von all dem Gedrehten auch veröffentlicht werden konnte, ermöglichte man uns schließlich die Fortsetzung des Projekts über "Lebensläufe" (1980) hinaus. Mit der Auflage, zum 50. Jahrestag der DDR 1999 einen abschließenden Einzelfilm zu gestalten. Mit einem solchen Film, der mehr weglassen mußte, als er zeigen konnte, waren mit Sicherheit keine Probleme verbunden. Über dieses Ziel ist das Projekt längst hinaus. Für die in den letzten Jahren veröffentlichten Biographien lag das Material zu etwa neun Zehnteln vor. Es ging nun vor allem um das "Wie" einer abschließenden Aufarbeitung des Dokumentierten, um letzte Aufnahmen zu "Redaktionsschluß" einzelner Lebensläufe und vor allem um die Chancen und Mittel für ihre Veröffentlichung. Diese abschließenden Aufnahmen waren allerdings von größter Wichtigkeit. Sie zeigen, wonach der Zuschauer fragt: Wie es dem einzelnen Golzower, dessen Lebenschronisten wir über eine so lange Zeit waren, im soundsovielten Jahr der deutschen Wiedervereinigung geht, wie er denkt und was sich in seinem Leben und Denken verändert hat.
Damit relativiert sich der Blick zurück und nimmt dem "Thema DDR", das im Material zeitgeschichtlich Übergewicht hat, notwendigerweise einiges von seiner Dominanz und möglichen "Ostalgie". Eine Langzeitbeobachtung wie die über die 'Kinder von Golzow' will den Zuschauer wieder dazu bringen, genau hinzusehen und zuzuhören. Er soll sich wiedererkennen im Mitmenschen, sich mit dem Durchschnittszeitgenossen in Vergleich setzen können. Entgegenzuwirken ist der Reizüberflutung durch ein inflationiertes Fernsehen mit seinem "mind kidnapping". Gemeint ist, dass wir Tag für Tag aus uns selbst entführt, zu Akzeptanz vorgespiegelter Als-ob-Wirklichkeiten verführt und in eine 'Lenkungsabhängigkeit' geführt werden. Als Konsequenz dessen, dass in die Wohnzimmer dank grenzenloser Medienvernetzung eine entfremdete Wirklichkeit gelangt, erleidet die individuelle Identität Schaden, wird der Mensch, den die Massenmedien krank machen, sich selbst immer fremder. So jedenfalls sehen es die Psychologen. (webside)